Projekt im Fokus: SESiWi
Das IFiF-Forschungsprojekt SESiWi untersucht, warum Frauen in klassischen und digitalen Medien seltener und anders dargestellt werden als Männer und wie sich das ändern lässt. Zentrales Element ist das Gender Equality Tech Tool (GETT), mit dem Redaktionen und Forschungseinrichtungen ihre eigene Berichterstattung analysieren und geschlechterspezifische Muster sichtbar machen können. Im Interview sprechen Prof. Dr. Isabell Welpe und PD Dr. Theresa Treffers über zentrale Forschungsergebnisse, das Potenzial des GETT-Tools und darüber, wie strukturelle Sichtbarkeit von Wissenschaftlerinnen langfristig gestärkt werden kann.
Was war der Ausgangspunkt für das Projekt SESiWi und welche Lücke in der bisherigen Forschung wollten Sie damit schließen?
Bisherige Forschung hat gezeigt, dass weibliche Wissenschaftlerinnen in der medialen Berichterstattung sowohl in klassischen als auch in digitalen Medien seltener und anders dargestellt werden als männliche Wissenschaftler. Dadurch ergeben sich strukturell verankerte Nachteile für Wissenschaftlerinnen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen, da Sichtbarkeit ein wesentlicher Erfolgsfaktor für (wissenschaftliche) Karrieren ist.
Mit dem Projekt SESiWi wollten wir daher erstens die zugrunde liegenden Mechanismen für geringe bzw. stereotypische Sichtbarkeit von Wissenschaftlerinnen erforschen. Ziel war es, zu verstehen, welche strukturellen und systemischen Ursachen für geschlechterspezifische Unterschiede sorgen. Zweitens wollten wir Transparenz schaffen, wie über Wissenschaftlerinnen und andere Frauen in Spitzenposition in der deutschen Medienlandschaft und an deutschen Forschungseinrichtungen berichtet wird. Zentraler Untersuchungsgegenstand war nicht nur die Quantität (die Häufigkeit der Nennungen) sondern auch die Qualität der Darstellung, also die Art und Weise, wie über Frauen im Vergleich zu Männern berichtet wird. Mit dieser Transparenzschaffung und Ursachenforschung wollten wir die geschlechtergerechte Sichtbarkeit von Wissenschaftlerinnen in klassischen und digitalen Medien erhöhen und diese Erhöhung durch Vernetzungs- und Verstetigungsmaßnahmen strukturell verankern.
Wo sehen Sie die größten Unterschiede in der Darstellung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der medialen Berichterstattung und welche Mechanismen sind dafür verantwortlich?
Insgesamt sehen wir mithilfe unseres Gender Equality Tech Tools (GETT), dass in den letzten fünf Jahren der Anteil von namentlich genannten Frauen in den News laut unseren Analysen nur durchschnittlich 21 % betrug. Im Bereich "Wissenschaft & Technik" liegt der Frauenanteil der namentlichen Nennungen bei 23 %. Bei den Spitzenpositionen ist dieser Unterschied noch deutlicher: Hier wurden männliche Wissenschaftler viermal so häufig namentlich genannt wie weibliche Wissenschaftlerinnen (80 % versus 20 %).
Wir sehen allerdings nicht nur einen Unterschied in der quantitativen Darstellung, sondern auch in der qualitativen Darstellung: in den letzten fünf Jahren waren nur 16 % der genannten Personen mit stereotypischen Beschreibungen, die mit "Wissenschaft" assoziiert sind, weiblich. Wie erwartet werden Frauen aber häufiger mit dem Stereotyp "Familie" assoziiert (74 %).
Es zeigt sich in unseren Studien, dass Wissenschaftlerinnen genauso sichtbar sein wollen wie ihre männlichen Kollegen. Nach unseren Erkenntnissen besteht ein Zusammenhang zwischen Sichtbarkeit und den psychologischen Konstrukten Selbstwirksamkeit, Selbstbewusstsein sowie dem Gefühl von Zugehörigkeit. Allerdings berichten deutsche Wissenschaftlerinnen über geringere Sichtbarkeit im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen. Zudem weisen unsere Befunde darauf hin, dass Wissenschaftlerinnen signifikant häufiger von der Angst vor negativen Reaktionen im Zusammenhang mit erhöhter Sichtbarkeit berichten.
Welche wirkungsvollen Maßnahmen für gleichberechtigte Sichtbarkeit haben Sie erarbeitet und wie können diese strukturell verankert werden?
Als wirkungsvolle Maßnahmen für gleichberechtigte Sichtbarkeit haben wir einerseits das GETT-Tool entwickelt. Andererseits haben wir eine partizipative Community zur Vernetzung aufgebaut und Workshops sowie Einzelberatungsgespräche für Zielsetzungen durchgeführt. Zentrale Erkenntnis ist, dass Bewusstsein über Unterschiede in der Berichterstattung, Verfügbarkeit von Rollenvorbildern und eine reflektierte Medienpraxis geschlechtergerechte Sichtbarkeit fördern.
GETT als datenbasiertes Analysetool hilft Redaktionen und Hochschulen ihre eigene Kommunikation systematisch auf geschlechtergerechte Darstellung qualitativ und quantitativ zu überprüfen. Dadurch können Rückschlüsse auf bestimmte Ressorts, direkte Zitate und den Verlauf über die Zeit gezogen werden. Diese Transparenz über den Status quo bildet die Basis für die Entwicklung von individuellen Zielen, deren Erreichungsgrade mithilfe des GETT überprüfbar sind.
Unsere entwickelte partizipative Online-Community W:Science stellt eine Plattform dar, um Austausch und strukturellen Wandel zwischen Vertreter*innen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien nachhaltig zu fördern. Hier posten wir beispielsweise regelmäßig aktuelle Forschungsergebnisse und stellen Wissenschaftler*innen durch Forschungsportraits unserer Community vor. Dadurch tragen wir aktiv zur erhöhten Sichtbarkeit von (Nachwuchs-)Wissenschaftlerinnen bei.
Als weitere Maßnahme zur Verankerung der Ergebnisse haben wir in Workshops, Vorträgen und Einzelgesprächen gezielt Medienhäuser, Forschungseinrichtungen und Universitäten dazu motiviert, sich Ziele für die Erhöhung der Sichtbarkeit von Wissenschaftlerinnen und anderen innovativen Frauen zu setzen und die Zielerreichung regelmäßig zu überprüfen.
Wie funktioniert das Gender Equality Tech Tool (GETT)? Welche Erkenntnisse lassen sich daraus für Redaktionen, Universitäten und Forschungseinrichtungen gewinnen?
Das im Rahmen des Projekts entwickelte GETT ist kostenlos und öffentlich auf unserer Website zugänglich. Das Tool umfasst die Sammlung und Auswertung von Zeitungsartikeln aus der öffentlichen Berichterstattung im Hinblick auf Geschlechterverteilung und stereotypischer Darstellung. Die Daten stammen direkt von deutschen Medienhäusern (Artikel) sowie von Universitäten und Forschungseinrichtungen (Pressemitteilungen) oder werden mit eigens entwickelten Web-Crawlern und Scrapern erhoben. Die Daten werden mithilfe von Methoden des Natural Language Processings, großen Sprachmodellen und eigenen Algorithmen ausgewertet.
Nutzer*innen können zwischen News und Pressemitteilungen unterscheiden und sich die Geschlechterverteilung beispielsweise über die Zeit oder nach Ressorts verteilt anzeigen lassen. Auch der Vergleich der Anzahl direkter Zitate von Frauen und Männern sowie Nennungen einzelner Personen sind im Tool realisierbar. Darüber hinaus können Nutzer*innen den Analysezeitraum beliebig auswählen. Eine besondere Funktion des Tools ist der Stereotypenvergleich der Geschlechter, zum Beispiel die Assoziation von Frauen und Männern mit den Stereotypen Heim versus Arbeit.
Redaktionen, Universitäten und Forschungseinrichtungen können daraus viele wertvolle Erkenntnisse und Handlungsmöglichkeiten gewinnen: sie können einerseits datenbasiert nachvollziehen, ob und in welchen Bereichen Ungleichgewichte in der Qualität und Quantität der Darstellung bestehen. Andererseits können sie Ihre eigene Kommunikationspraxis mit den anderen offiziellen Einrichtungen und Medienhäusern vergleichen (Benchmarking). Auf dieser empirischen Basis können sie gezielte Gleichstellungsmaßnahmen entwickeln und deren Effektivität evidenzbasiert überprüfen.
Welche Bedeutung hat im Projekt SESiWi die Kooperation mit Medienhäusern für die nachhaltige Verankerung von Geschlechtergerechtigkeit in der Berichterstattung?
Die Kooperation mit Medienhäusern spielt für das Projekt eine entscheidende Rolle: Medien fungieren als Multiplikatoren für die öffentliche Wahrnehmung. Sie prägen, wer wie als Experte oder Expertin sichtbar ist und wie Wissenschaft kommuniziert wird. Daher ist eine enge Zusammenarbeit mit Redaktionen Grundvoraussetzung dafür, strukturelle und langfristige Veränderungen zur Steigerung der Sichtbarkeit von Wissenschaftlerinnen herbeizuführen. Darüber hinaus sind Universitäten und Forschungseinrichtungen zentrale Partner unseres Projekts, da sie in Pressemitteilungen wesentlich zur Sichtbarkeit von Wissenschaftlerinnen beitragen.
Im Rahmen der Kooperationen ergab sich ein enger Austausch zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und den Perspektiven und Arbeitsweisen von Journalist*innen, um gemeinsam Maßnahmen zu entwickeln, wie z.B. bei einem Workshop, den wir mit dem Handelsblatt durchgeführt haben. Langfristig tragen diese Kooperationen dazu bei, Bewusstsein für geschlechtergerechte öffentliche Berichterstattung zu schaffen, gezielte Interventionen durchzuführen und strukturelle Veränderungen in Kommunikationsprozessen nachhaltig zu verankern.
Wie verbreiten Sie die im Forschungsprojekt gewonnenen Erkenntnisse?
Zur Verbreitung der gewonnenen Erkenntnisse verfolgen wir eine mehrstufige Disseminationsstrategie. Ziel ist es, die Erkenntnisse sowohl in Wissenschaftskreisen als auch mit Journalist*innen und der breiten Öffentlichkeit zu teilen und Medienschaffende mit der Wissenschaft enger zu vernetzen.
Über die Projektlaufzeit hinweg haben wir die partizipative Online-Community W:Science aufgebaut. Diese zählt inzwischen über 500 Mitglieder auf LinkedIn, Slack und Instagram. Dort teilen wir regelmäßig Forschungsergebnisse, Praxisbeispiele und Diskussionsbeiträge zu geschlechtergerechter Wissenschaftskommunikation. Wir freuen uns auch jederzeit über weitere Community Mitglieder.
Darüber hinaus wurde 2025 eine große ganztägige Abschlusskonferenz "Breaking BAIS" mit über 700 Teilnehmenden veranstaltet, zu der prominente internationale Vertreter*innen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Medien angereist sind. Unter anderem waren hier Prof. Emilio Castilla (MIT), Prof. Maite Taboada (Simon Fraser University) sowie Ricarda Lang (Bündnis 90/Die Grünen) vertreten. Hier hatten wir nicht nur die Chance, unsere Projekterkenntnisse zu teilen, sondern auch Diskussionen mit Vertreter*innen aus diversen Disziplinen zu fördern und so eine Plattform für Austausch und Vernetzung zu bieten.
Zudem haben wir unsere Ergebnisse in verschiedenen Workshop- und Vortragsformaten präsentiert, darunter internationale Forschungskonferenzen, W:Science Workshops und Praxisseminare mit Medien- und Wirtschaftsvertreter*innen. Darüber hinaus haben wir unsere Ergebnisse in Forschungs- und praxisnahen Outlets der (Fach-)Öffentlichkeit zugänglich gemacht, etwa durch unseren Beitrag in Forschung & Lehre.
Wir möchten dazu ermutigen, unser GETT auch für zukünftige Forschung zu nutzen und ggf. weiterzuentwickeln. Zu diesem Zweck haben wir den Code für GETT auf GitHub veröffentlicht.
Abschließend möchten wir uns ganz herzlich bei dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und dem Bundeministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) für die sehr gute Unterstützung im Projekt SESiWi bedanken!