Gender Award Gap: Erklärungsansätze für den niedrigen Frauenanteil bei Wissenschaftspreisen

Eine Frau mit weißem Kittel und Schutzbrille entnimmt mit einer Pipette eine Flüssigkeit aus einem Glas..
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Anerkannte und hochdotierte Wissenschaftspreise wurden und werden deutlich häufiger an Männer als an Frauen vergeben. Die geringen Frauenanteile unter Preisträger*innen des Nobelpreises sind ein prominentes Beispiel dafür. Doch auch auf nationaler Ebene zeigen sich bei renommierten Preisen wie dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis oder dem Heinz Maier-Leibnitz-Preis Ungleichheiten hinsichtlich der Geschlechterverteilung.

Erklärungen für dieses Phänomen setzen sowohl bei allgemeinen gesellschaftlichen Strukturen als auch bei dem Wissenschaftssystem und den Vergabepraktiken an.

Frauen waren und sind auch heute noch in vielen Fachgebieten der Wissenschaft und vor allem in den akademischen Positionen, die einen Zugang zum Pool der möglichen Kandidat*innen für Wissenschaftspreise ermöglichen, weniger vertreten als Männer (vgl. Daten und Fakten zu Frauenanteilen in der Wissenschaft in Deutschland). Dieser Umstand allein erklärt allerdings nicht die geringen Frauenanteile unter den Preisträger*innen von Wissenschaftspreisen. Verschiedene Studien auf nationaler und internationaler Ebene vergleichen den Anteil von Frauen unter Preisträger*innen von Wissenschaftspreisen mit dem Frauenanteil unter den potenziell verfügbaren Kandidat*innen und kommen zu dem Schluss, dass Frauen unter Preisträger*innen anteilig unterrepräsentiert sind. Auch die in den letzten Jahrzehnten gesteigerte Anzahl von Frauen im Nominierungspool von Wissenschaftspreisen spiegelt sich demnach nicht angemessen im Geschlechterverhältnis unter den Ausgezeichneten wider.1,2,3,4,5

Lunnemann, Jensen und Jauffred1 untersuchten etwa, ob die geringen Frauenanteile unter Nobelpreisträger*innen der Medizin, Physik, Chemie und der Wirtschaftswissenschaften mit der Geschlechterverteilung in den Forschungsbereichen erklärt werden können. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Frauen unter Nobelpreisträger*innen seit Beginn der Verleihungen stark unterrepräsentiert sind. Damit zeigen sie, dass die geringe Anzahl an Nobelpreisträger*innen auch historisch betrachtet in ihrem Ausmaß nicht gerechtfertigt war. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 96 Prozent sei die Geschlechterverteilung auf einen Gender Bias, also geschlechtsspezifische Voreingenommenheit zurückzuführen. In diesem Sinne kann man von einem „Gender Award Gap“ sprechen.

Am Beispiel der Geschichte des Nobelpreises zeigt sich, wie gesellschaftliche Strukturen das Wissenschaftssystem beeinflussen und Frauen daran hindern, mit ihren Leistungen sichtbar zu werden. So war wissenschaftlich arbeitenden Frauen lange Zeit der Zugang zu den beruflichen Positionen (z.B. Professuren) verwehrt, die ihre Arbeit sichtbarer gemacht hätten. Stattdessen wurden ihre Errungenschaften oft ausschließlich ihren männlichen Kollegen oder Ehemännern zugeschrieben, mit denen sie zusammenarbeiteten oder denen sie zuarbeiteten.6,7 Zudem hat die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung Einfluss darauf, in welchem zeitlichen Umfang Frauen wissenschaftlich arbeiten können. Frauen kam (und kommt auch heute noch vielfach) die hauptsächliche Verantwortung für Haushalts- und Sorgearbeit zu. Da preiswürdige Forschung viel Arbeitszeit kostet, sind familiäre Verpflichtungen für Frauen ein Hindernis für das Erreichen entsprechender wissenschaftlicher Karrierestadien.1,7,8 Eine Analyse der Nobelpreisträger*innen zwischen 1901 und 2006 zeigt, dass weibliche Preisträgerinnen seltener verheiratet und öfter kinderlos sind als männliche Preisträger.8 Die in der Studie betrachtete Anzahl an Personen ist sehr niedrig, aber auch Aussagen von Preisträger*innen unterstützen die These, dass die Vereinbarkeit von Wissenschaft und Familie hauptsächlich für Frauen eine Schwierigkeit darstellt.7

Mit diesen Strukturen gehen stereotype Vorstellungen über die Fähigkeiten von Männern und Frauen und ihre gesellschaftliche Rolle einher, die bis heute wirken und verhindern, dass Frauen für ihre innovativen Leistungen dieselbe Anerkennung erhalten wie Männer. Das vorherrschende Bild eines Wissenschaftlers ist demnach immer noch männlich. Männer in der Wissenschaft würden daher von vornherein als kompetenter wahrgenommen, sowohl von Männern als auch von Frauen.2,6 Diese geschlechtsspezifische Voreingenommenheit hat vielfältige negative Auswirkungen auf die Teilhabe und Sichtbarkeit von Frauen in Wissenschaft und Forschung. So zeigen sich Nachteile für Wissenschaftlerinnen etwa in der Bewertung ihrer Publikationen, in der inhaltlichen Gestaltung von Empfehlungsschreiben für akademische Positionen und in der Bereitstellung von Ressourcen und Fördermitteln für ihre Arbeit.1,9,10 Ein Mangel an Ressourcen erschwert wiederum die Produktion von wissenschaftlichem Output und damit den Zugang zu Nominierungspools von Wissenschaftspreisen.1 Da der Wettkampf um Ressourcen und Förderung häufig zum Nachtteil für Frauen entschieden wird, spezialisieren sich Wissenschaftlerinnen zudem oft auf weniger umkämpfte Randbereiche. Diese Strategie birgt das Risiko, nicht gesehen zu werden und auch bei Preisen und Auszeichnungen nicht berücksichtigt zu werden.2,7

Geschlechtsspezifische Vorurteile über die Fähigkeiten von Männern und Frauen beeinflussen zudem nicht nur die externe Wahrnehmung von Wissenschaftler*innen, sondern auch die Selbsteinschätzung von Wissenschaftlerinnen. Infolgedessen tendieren diese weniger dazu, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und sich für einen Preis ins Gespräch zu bringen.10,11

Neben diesen Erklärungsversuchen, die die niedrigen Frauenanteile unter Preisträger*innen als eine Folgeerscheinung von diskriminierenden Strukturen und geschlechtsspezifischer Voreingenommenheit im Wissenschaftssystem betrachten, setzen andere Ansätze auch bei den Vergabepraktiken selbst an. So kann etwa die Zusammensetzung der nominierenden Institutionen und Individuen sowie der Preiskomitees Auswirkungen auf die Berücksichtigung von Frauen haben.2,7 Lincoln et al.2 kommen in ihrer Studie über Wissenschaftspreise in den USA zu dem Ergebnis, dass Komitees, die von Männern dominiert bzw. geführt sind, eher Männer bevorzugen und plädieren daher für mehr Frauen in Preiskomitees und als Komiteeleitungen. Vor allem im Zusammenhang mit dem Nobelpreis wird von einem „old boys network“ gesprochen. In vielen der Institutionen, die jedes Jahr zur Nominierung berechtigt sind, sind überwiegend Männer tätig und der Zugang zu den Vergabeinstitutionen erfolgt teilweise über persönliche Empfehlungen und Netzwerke, in denen Frauen unterrepräsentiert sind.7
Auch bei der Bewerbung und Berichterstattung von Wissenschaftspreisen dominiert das Bild vom männlichen Wissenschaftler und wird zum Beispiel in Ausschreibungen durch stereotype Beschreibungen reproduziert.2,12 Hinzu kommt, dass lange Zeit der kollaborative Charakter von Wissenschaft verkannt wurde. Entsprechend der „Great-Man-Theory“ wurden bei Auszeichnungen oft einzelne männliche Wissenschaftler ins Rampenlicht gerückt, obwohl hinter wissenschaftlichen Errungenschaften ein ganzes Team von Wissenschaftler*innen steckt – inklusive Frauen.6

Zusammenfassend lässt sich die Unterrepräsentation von Frauen unter Preisträger*innen von Wissenschaftspreisen als (ein) Ausdruck des „Matilda-Effekts“ beschreiben. Die Historikerin Margaret Rossiter benannte damit 1993 das Phänomen, dass Frauen in der Wissenschaft für ihre Arbeit nicht dieselbe Anerkennung wie Männer erfahren. Die Bezeichnung geht auf die US-Amerikanerin Matilda Joslyn Gage zurück, die im Jahr 1870 ein Pamphlet mit dem Titel „Woman as Inventor“ verfasste. Darin argumentierte sie gegen die vorherrschende Meinung, dass es Frauen an den notwendigen Eigenschaften und Fähigkeiten zum Erfindertum mangele.2,9


Im Rahmen der Förderrichtlinie „Innovative Frauen im Fokus“ befasst sich das Projekt „Gender Award Gap? (Un-)Sichtbarkeit von Frauen in den Anerkennungskulturen der Medizin“ (GAP) mit Preisen und Auszeichnungen in der Medizin in Deutschland und untersucht, inwiefern hier ein Gender Award Gap vorliegt.  
Ausführliche Informationen zum Projekt finden Sie im Projektsteckbrief



Literatur:
1 Lunnemann, Per; Jensen, Mogens H. & Jauffred, Liselotte (2019): Gender bias in Nobel prizes. Palgrave Communications, 5, Artikel Nr. 46.
2 Lincoln, Anne E.; Pincus, Stephanie; Bandows Koster, Janet & Leboy, Phoebe S. (2012): The Matilda Effect in science: Awards and prizes in the US, 1990s and 2000s. Social Studies of Science, 42(2), 307-320.
3 Meho, Lokman I. (2021): The gender gap in highly prestigious international research awards, 2001-2020. Quantitative Science Studies, 2(3), 976-989.
4 Silver, Julie K.; Blauwet, Cheri A.; Bhatnagar, Saurabha et al. (2018): Women Physicians Are Underrepresented in Recognition Awards From the Association of Academic Physiatrists. American Journal of Physical Medicine & Rehabilitation, 97(1), 34-40.
5 Patel, Shruti R.; St. Pierre, Frederique; Velazquez, Ana I et al. (2021): The Matilda Effect: Underrecognition of Women in Hematology and Oncology Awards. The Oncologist, 26(9), 779-786.
6 Lamm, Lisa (2023): Der Mathilda-Effekt: Wie Frauen in der Wissenschaft unsichtbar werden. National Geographic. Online: www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2023/02/diskriminierung-der-matilda-effekt-wie-frauen-in-der-wissenschaft-unsichtbar-werden (Abgerufen am 01.06.2023).
7 Hedin, Marika (2014): A Prize for Grumpy Old Men? Reflections on the Lack of Female Nobel Laureates. Gender & History, 26(1), 52-63.
8 Charyton, Christine; Elliott, John O.; Rahman, Mohammed A.; Woodard, Jeness L. & DeDios, Samantha (2011): Gender and Science: Women Nobel Laureates. Journal of Creative Behavior, 45(3), 203-214.
9 Budden, Amber E.; Tregenza, Tom; Aarssen, Lonnie W.; Koricheva, Julia; Leimu, Roosa & Lortie, Christopher J. (2008): Double-blind review favours increased representation of female authors. Trends in Ecology & Evolution, 23(1), 4-6.
10 Correll, Shelley J. (2001): Gender and the Career Choice Process: The Role of Biased Self‐Assessments. American Journal of Sociology, 106(6), 1691-1730.
11 Rudman, L. A. (1998): Self-promotion as a risk factor for women: The costs and benefits of counterstereotypical impression management. Journal of Personality and Social Psychology, 74(3), 629-645.
12 Carnes, Molly; Geller, Stacie; Fine, Eve; Sheridan, Jennifer & Handelsmann, Jo (2005): NIH Director's Pioneer Awards: Could the Selection Process Be Biased against Women? Journal of Women’s Health, 14(8), 684-691.