Projekt im Fokus: UN/SEEN
Das IFiF-Projekt UN/SEEN macht die innovativen Leistungen von aktuellen Frauen im Grafik-Design und aus der Zeit von 1865 bis 1919 sichtbar. Damit will UN/SEEN die Wahrnehmung des gesamten Design-Berufsbildes langfristig gendersensibel verändern. Auf der Projektwebsite werden die Biografien und Arbeiten von historischen Grafik-Designerinnen, Typografinnen, Buchgestalterinnen und Illustratorinnen dokumentiert und ausgewählte Gestalterinnen im Porträt vorgestellt. Im Interview erfahren Sie mehr über das Forschungsdesign und die Ergebnisse.
Mit Ihrem Projekt UN/SEEN wollen Sie die Leistungen von Grafik-Designerinnen sichtbar machen. Warum wurden die Leistungen von Grafik-Designerinnen in der Vergangenheit häufig übersehen – und ist das heute noch der Fall?
Der Blick in einschlägige Literatur zur Designgeschichte offenbart, dass immer dieselben, meist männlichen Namen genannt werden. Erst seit kurzer Zeit werden in Design-Diskurse vermehrt Genderaspekte integriert – der Bereich Grafik-Design ist dabei allerdings immer noch unterrepräsentiert, ebenso wie die Zeit VOR dem berühmten Bauhaus. UN/SEEN konnte mit der Website und ihrer Datenbank von mehr als 300 Designerinnen, deren Namen damit nun auch in Online-Suchmaschinen auftauchen, einen wichtigen Schritt in Richtung Sichtbarkeit leisten.
Wo und wie finden Sie Informationen über historische Gestalterinnen? Gibt es besondere Hürden bei der Recherche?
Mit dem Schwerpunkt 1865-1919 bewegt sich unsere Recherche bundesweit durch (Grafik- und Plakat-)Sammlungen von Museen, Bibliotheken und Archiven. Zudem durchforsten wir digital verfügbares Material, etwa zeitgenössische Zeitschriften aus den Bereichen Kunstgewerbe und Gebrauchsgrafik – hier wurde etwa über Wettbewerbe und Ausstellungen berichtet. Schwierigkeiten ergeben sich häufig dadurch, dass Datenbanken nicht auf dem neuesten Stand sind, Objekte oder Namen noch nicht inventarisiert und damit nicht auffindbar sind. Zudem stellen die Zuschreibungen ein Problem dar, da Frauen ihre Vornamen oft abgekürzt haben. Gebrauchsgrafische Arbeiten auf Papier aus der Zeit um 1900 sind außerdem sehr fragil – hier half uns die freundliche Unterstützung der Archiv-Mitarbeitenden. Auch Nachfahren sind meist sehr offen, sie gaben bereitwillig Informationen und Material an uns weiter.
Gibt es eine Gestalterin, deren Werdegang oder Arbeit Sie besonders beeindruckt hat?
Es fällt schwer, sich unter 300 innovativen Designerinnen für eine zu entscheiden. Beeindruckend sind sicherlich die Werdegänge von Clara Möller-Coburg und Änne Koken, die beide jung verstarben, dennoch sehr erfolgreich waren und eine eigene Formensprache entwickelten. Sie wurden zu Lebzeiten bereits gleichberechtigt unter ihren männlichen Kollegen wahrgenommen. Möller-Coburg entwarf u. a. im Rahmen der »Steglitzer Werkstatt« Verpackungen für diverse Marken, Koken hatte ein eigenes Atelier in Hannover und arbeitete für den Gebäckhersteller Bahlsen als künstlerischer Rat. Beide repräsentieren außerdem die Vielseitigkeit, den der gestalterische Beruf bereits damals ausmachte: Sie befassten sich neben Reklame auch mit Glas- und Textilarbeiten und entwarfen Reformkleider.
Welche (strukturellen) Herausforderungen von damals bestehen heute noch fort? Und in welchen Bereichen hat sich die Situation für Frauen im Design verändert?
Der Zugang zu Ausbildung und Weiterbildung im Grafik-Design ist für Frauen heute verglichen zum Untersuchungszeitraum unproblematisch. Der prozentuale Anteil an der Studierendenschaft liegt in Deutschland durchschnittlich zwischen 60 - 80 Prozent. Auch die Sichtbarkeit von Designerinnen ist durch Social Media deutlich erhöht. Gleichwohl ist der Anteil in den Führungspositionen in Agenturen und Studios nach wie vor gering. Das Bewusstsein für gendergerechte Besetzungen in Fachjurys und auf Konferenzen hat zwar zugenommen, aber die Zahlen sind noch deutlich verbesserungswürdig. Wie sich die Entwicklung auf die Literatur der Designgeschichte langfristig auswirken wird, bleibt abzuwarten.
Welche Formate und Medien setzen Sie ein, um die Frauen und ihre Leistungen aus der Unsichtbarkeit zu holen und für eine breite Öffentlichkeit zugänglich zu machen?
Wir arbeiten von Beginn der Projektlaufzeit an mit verschiedenen Formaten, um unsere Mission an diverse Zielgruppen heranzutragen. Unser Instagramkanal (ca. 2.430 Follower*innen) begleitet als übergeordnetes Medium den Arbeitsprozess und holt durch eine breite Ansprache alle Interessierten ins Boot; durch Collab-Posts mit ähnlichen Projekten wird die Reichweite vergrößert. Unsere mehrfach prämierte, zweisprachige Projektwebsite dient als Datenbank und Schaufenster für die (historischen und aktuellen) Designerinnen. Durch Wikipedia-Workshops erlernten Studierende sowie Mitarbeitende aus Archiven und Universitäten den Umgang mit der Enzyklopädie und schrieben mithilfe unserer Recherchen in einem kollaborativen Prozess 32 neue Artikel über Frauen im Grafik-Design. Das »SEEN–Around the World-Symposium« feierte mit einem 3-tägigen Event das typografische Werk von 30 Frauen sowie non-binären Personen rund um den Globus. Die Forschungsergebnisse hinsichtlich der historischen Perspektive werden zuletzt in einer bildgewaltigen Publikation vorgestellt und kontextualisiert.
Mit dem SEEN–Around the World-Symposium haben Sie aktuelle Designerinnen und Typografinnen weltweit vernetzt. Welche Unterschiede oder Gemeinsamkeiten nehmen Sie zwischen Deutschland und anderen Ländern wahr?
Die Szene ist heute international vernetzt und zumeist sind die Ausbildungsgänge der Designerinnen längst nicht mehr national zu fassen. Internationale Kollaborationen über Kontinente hinweg sind dabei gerade im Type-Design mit besonderen Fragestellungen zu Schriftsystemen heute an der Tagesordnung. Das Beschäftigungsverhältnis als Freelancerin bringt Unabhängigkeit und Vielfalt, aber auch fehlende Absicherung im Krankheitsfall oder bei der Familiengründung. Die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie ist nach wie vor die zentrale Herausforderung für junge Gestalterinnen. Das Thema der Sichtbarkeit und des internationalen Austauschs wurde von allen Teilnehmerinnen überschwänglich begrüßt und eine mögliche Fortsetzung nachgefragt.
Wie stellen Sie sicher, dass die Ergebnisse und Erkenntnisse von UN/SEEN langfristig verfügbar sind und Wirkung erzeugen?
Im Laufe des Projekts konnten wir durch engen Kontakt mit Museen und Archiven, Vorträge, das Symposium und nicht zuletzt durch unsere Auszeichnungen bereits eine große, internationale Community aufbauen. Die Projektwebsite sowie die neu entstandenen Wikipedia-Artikel sind eine wichtige Grundlage, damit die Designerinnen online mehr Sichtbarkeit erhalten. Damit die von uns gesammelten Informationen auch nach Projektende nicht verschwinden, werden wir diese an die Datenbank der Plattform Arthistoricum weitergeben und damit zukünftiger Forschung zur Verfügung stellen. Nicht zuletzt entsteht mit der Publikation, die in einer deutschen und einer englischsprachigen Ausgabe erscheint, ein analoges, bleibendes Produkt, das vor allem im internationalen Raum Aufmerksamkeit für die innovativen Leistungen der Grafik-Designerinnen schaffen wird.